Ein längst überfälliger Schritt, der Fragen aufwirft
Es ist eine Premiere, die zugleich Freude und Stirnrunzeln hervorruft: Der „Tagesspiegel“, setzt mit seinem neuen Ostdeutschland-Newsletter ein Zeichen, das ostdeutsche Themen in den Vordergrund rückt und eine Brücke zwischen Ost und West zu schlagen versucht. Dies sollte auf den ersten Blick gefeiert werden, spiegelt aber ebenso Unzulänglichkeiten des gesamtdeutschen Diskurses wider.
Die Ankündigung des Newsletters suggeriert, was nach 30 Jahren der deutschen Einheit traurige Realität ist: Eine gesonderte Berichterstattung aus dem Osten Deutschlands erscheint notwendig, weil dieses Deutschland, unser gemeinsames Land, noch immer von gedanklichen Grenzen durchzogen ist.
Man fragt sich unweigerlich, wieso eine solche Initiative erst jetzt, im Jahr 2023, zustande kommt. Warum benötigen wir einen besonderen Newsletter, um zu verstehen, was im östlichen Teil unseres Landes vor sich geht? Warum wurden Geschichten, Herausforderungen und Erfolge der ostdeutschen Länder nicht schon längst integraler Teil des nationalen Diskurses?
Es erscheint fast ironisch, dass der Newsletter sich ausgerechnet in einer Zeit konstituiert, in der die AfD in den ostdeutschen Bundesländern bei Wahlen stark abschneidet, und wirkt wie ein spätes Aufwachen nach einem dreißigjährigen Dornröschenschlaf der öffentlichen Wahrnehmung. So wichtig und lobenswert das Vorhaben des „Tagesspiegels“ ist, so reflektiert es doch eine Spaltung, die längst überwunden sein sollte.
Allerdings darf die Thematisierung von Ostdeutschland nicht auf eine narrative Insel beschränkt bleiben, sondern muss ein integraler Bestandteil der nationalen Medienlandschaft sein. Denn die Probleme, die der Newsletter adressiert – wie Rechtsextremismus und die gesellschaftliche Spaltung – sind keine, die nur im Osten existieren. Sie sind deutsche Probleme und sie verdienen eine gesamtdeutsche Plattform.
Jedes Zögern oder jede Sonderbehandlung bestätigt implizit die Differenz, die wir zu überwinden glaubten. Dass nun, 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, ein Fokus auf Ostdeutschland als Besonderheit verkauft wird, offenbart das Versäumnis, die ostdeutsche Identität als fest verwoben mit der gesamtdeutschen zu begreifen.
Es ist an der Zeit, dass wir uns von den Begrifflichkeiten „West“ und „Ost“ lösen und beginnen, ein Deutschland zu betrachten, das in seiner Gesamtheit – mit all seinen regionalen Eigenheiten und Geschichten – verstanden und berichtet wird. Der Ostdeutschland-Newsletter des „Tagesspiegels“ ist ein Anfang, darf jedoch nicht das Ende dieser überfälligen Entwicklung sein.
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