Der langsame Weg zu einer gemeinsamen deutschen Identität

Hürden, Chancen und die Notwendigkeit des Miteinanders

Drei Jahrzehnte nach der deutschen Wiedervereinigung steht Deutschland vor einer bedeutenden Frage: Wie kann eine gemeinsame Identität, die die Menschen im Osten und Westen des Landes vereint, gefestigt und gefördert werden?

Der Mauerfall im Jahr 1989 und die anschließende Wiedervereinigung im Jahr 1990 waren historische Momente mit weitreichenden Folgen. Sie brachten Gegebenheiten mit sich, die das Potenzial hatten, nicht nur physische Barrieren, sondern auch ideologische und kulturelle Grenzen zwischen den Bürgern der ehemaligen DDR und BRD zu überwinden. Doch trotz der offensichtlichen politischen Wiedervereinigung wurde ein wichtiger Aspekt vernachlässigt: eine bewusste und aktive Gestaltung einer neuen, gemeinsamen deutschen Identität.

Es ist nicht zu leugnen, dass der Transformationsprozess zu einer signifikanten Kulturdifferenz geführt hat, in der die westdeutsche Kultur ihre ökonomische Effizienz und Wertvorstellungen als überlegen darstellte. Dies stellte die ostdeutsche Kultur und ihre Ideale infrage und führte zu einer wenig transparenten, oft unbewusst geführten kulturellen Konfrontation, die erst in der jüngsten Zeit anerkannt und diskutiert wird.

Um diese Kluft zu überbrücken, bedarf es mehr als nur politischer Anstrengungen. Es ist eine aktive Bemühung zur Schaffung gemeinsamer Symbole und Feiertage erforderlich. Hierbei könnte der 3. Oktober, der Tag der Deutschen Einheit, zu einem symbolträchtigen Feiertag der Demokratie weiterentwickelt werden, der mehr betont als nur das historische Ereignis, sondern der die Werte eines vereinten Deutschlands repräsentiert.

Die Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“ hat differenzierte Empfehlungen vorgelegt, die in der Tat in die richtige Richtung weisen. Die deutsche Geschichte bietet reichlich Stoff für eine positive Identifikation, sei es durch die Anerkennung des demokratischen Fortschritts bis 1989, der Friedlichen Revolution, oder der Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Diese Geschichten ermöglichen es uns, ein Fundament für eine kollektiv geteilte Identität zu legen, die auf demokratischen Werten und der Anerkennung von Vielfalt basiert.

In Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung ist unsere Gesellschaft jedoch zusätzlichem Druck ausgesetzt, der die Sehnsucht nach Zusammenhalt und gemeinsamen Zielen verstärkt. Hier spielen insbesondere in den alten Bundesländern gewachsene Strukturen wie Sportvereine und Kulturgruppen eine wichtige Rolle bei der Schaffung eines Gemeinschaftsgefühls. Im Osten hingegen müssen oft solche Strukturen erst wiedererstehen oder neu gedacht werden. In einer Zeit, in der individuelle Strategien oft zur Vereinzelung führen, benötigen wir vermehrt solche „analogen“ Angebote, die ein Zugehörigkeitsgefühl und den Austausch miteinander fördern.

Herausforderungen wie die COVID-19-Pandemie, die Klimakrise und geopolitische Spannungen verlangen von uns allen, die Demokratie als einzig wahres Fundament für Vielfalt und Freiheit zu verstehen und zu schätzen. Um dies zu erreichen, bedarf es eines Prozesses, der über das bloße Anerkennen von Verschiedenheit hinausgeht. Es geht darum, gemeinsam zu trauern, Verluste zu akzeptieren und den damit verbundenen seelischen Schmerz nicht nur zuzulassen, sondern auch zu verarbeiten. Denn nur durch die Überwindung der Trauer können wir uns mit Hoffnung für die Zukunft verbinden.

Die Rede unseres Bundespräsidenten zum Gedenken an die Befreiung von Auschwitz zeigt, wie das öffentliche Anerkennen und Verarbeiten von kollektivem Schmerz und Trauer aussehen kann. Dies kann und soll als Beispiel dienen, um eine offene und solidarische Diskussions- und Gesprächskultur weiter voranzutreiben, in der Anerkennung von seelischem Schmerz nicht bloß als Schwäche gesehen wird, sondern als Ausgangspunkt für Heilung und Zusammenhalt.

Kunst und Kultur bieten uns vielfältige Möglichkeiten, mit Herausforderungen umzugehen und seelischen Schmerz zu überwinden. Sie stellen zentrale Ressourcen dar, die uns helfen können, unsere Identität zu formen und eine gemeinsame Sprache zu finden.

Letztlich liegt es an der Politik, zu vermitteln, dass in unserer Gesellschaft das Handeln jedes Einzelnen zählt und dieses Engagement anerkannt und gewürdigt wird. Dies ist essenziell, um das Gefühl der Selbstwirksamkeit, das viele DDR-Bürger während der Friedlichen Revolution erfahren haben, zu erhalten und neu zu beleben. Das Ehrenamt und das persönliche Engagement sollten daher besonders gefördert und wertgeschätzt werden.

Deutschlands Zukunft als Teil eines vereinten Europas bietet großartige Möglichkeiten für gemeinschaftliches Handeln und Selbstwirksamkeit. In der Tat ist es an der Zeit, dass wir alle uns dieser Herausforderung stellen und aktive Schritte unternehmen, um ein gemeinsames Deutschland zu gestalten, das sich seiner Vielfalt bewusst ist und diese als Stärke begreift. Wir sind nicht nur durch Geschichte und Kultur verbunden, sondern auch durch die gemeinsamen Herausforderungen unserer Zeit und die gemeinsame Verantwortung, ein Deutschland zu schaffen, dass demokratische Werte lebt und schützt.

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