Ein unerledigtes Kapitel der deutschen Einheit
Über 33 Jahre sind vergangen, und die Mauer, die einst Ost- und Westdeutschland trennte, ist Geschichte. Doch was weniger deutlich sichtbar bleibt, ist die festzementierte Kluft zwischen den Löhnen und Gehältern in beiden Teilen unseres Landes. Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes sind unmissverständlich: Ostdeutsche Vollzeitbeschäftigte verdienen durchschnittlich 824 € brutto pro Monat weniger als ihre Kollegen im Westen – eine Differenz, die sich im Zeitverlauf hartnäckig hält. Es ist eine bestürzende Erkenntnis, dass im Jahr 2023 der Ruf nach gleichwertigen Lebensverhältnissen immer noch ein Ruf in der Wüste zu sein scheint.
Die Gründe für diese dauerhafte Lohnlücke sind vielschichtig und historisch tief verwurzelt. Mit dem Zusammenbruch der DDR und der anschließenden Wiedervereinigung Deutschlands wurden die wirtschaftlichen Strukturen des Ostens ruckartig in die Marktwirtschaft überführt. Vielfach kam es zu Unternehmensschließungen, Abwanderungen qualifizierter Arbeitskräfte und einem grundlegenden Transformationsprozess – all das in einem wirtschaftlichen Umfeld, das an die westdeutsche Wirtschaftsleistung bei Weitem nicht heranreichte.
Diese historischen Unterschiede genügen jedoch nicht, um die heutige Lohnlücke zu rechtfertigen. Sie sind teilweise auch Ausdruck einer anhaltenden Unterschätzung der Leistungsfähigkeit und des Potenzials der östlichen Bundesländer. Zu oft wird Arbeitskraft im Osten als billiger abgewertet, anstatt sie als gleichwertig zu erkennen und zu vergüten. Das Phänomen der „Niedriglohn-Orgie“ im Osten, wie von Sören Pellmann angeprangert, ist somit nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine gesellschaftliche Herausforderung.
Zudem verstärken strukturelle Schwächen, wie die geringere Anwesenheit von Großunternehmen und Industriezweigen, die hohe Abhängigkeit von kleineren Betrieben und ein im Vergleich zum Westen weniger dicht gewobenes Netz an gewerkschaftlicher Organisation und damit ein schwächeres Einfordern von Arbeitnehmerrechten diese Problematik. Es fehlt an einer Lohnpolitik, die der Qualifikation und dem Arbeitseinsatz der Menschen im Osten gerecht wird.
Um diese Lohnlücke zu schließen, bedarf es konzertierter und entschlossener Bemühungen auf mehreren Ebenen. Zum einen müssen gewerkschaftliche Strukturen gestärkt und ausgebaut werden. Die Sozialpartnerschaft muss im Osten einen ähnlichen Stellenwert wie im Westen erhalten, um Lohnverhandlungen zu intensivieren, die zu einer Angleichung führen. Zum anderen sind gezielte Investitionen in Bildung und Infrastruktur unerlässlich, um die Produktivität und damit auch die Lohnniveaus in den neuen Bundesländern zu steigern.
Wirtschaftsförderungsprogramme sollten sich spezifisch auf den Osten konzentrieren und Unternehmensgründungen sowie Innovationen unterstützen. Nur so kann ein Klima entstehen, das Hochtechnologie und Zukunftsbranchen ansiedelt und prosperieren lässt. Dazu gehören auch Fördermaßnahmen für berufliche Weiterbildung, um den Anforderungen einer sich schnell wandelnden Arbeitswelt gerecht zu werden.
Überdies muss der politische Diskurs die Wirklichkeit reflektieren und die Dringlichkeit des Handelns unterstreichen. Es ist mehr als nur ein Leitsatz des Grundgesetzes, dass Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse erreicht werden soll – es ist eine Verpflichtung gegenüber jedem Bürger und jeder Bürgerin in Deutschland.
Die Lohnlücke zwischen Ost und West ist ein Symptom, das nicht losgelöst von anderen sozialen und ökonomischen Ungleichheiten gesehen werden kann. Ihre Hartnäckigkeit zeigt uns, dass die wirtschaftliche Einheit Deutschlands immer noch eine Baustelle ist. Die Lohnlücke zu schließen, ist eine Frage der Gerechtigkeit und der Solidarität.
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